Stellungnahme Artikel

Koblenzer Prozess: Gerechtigkeit durch internationale Justiz

Rechtsanwalt Michal Shammas

Syrerinnen und Syrer haben seit einiger Zeit das Gefühl, dass die internationale Gemeinschaft sie im Stich gelassen hat. Man kann nicht auf den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zurückgreifen, weil Syrien das Römische Statut des IStGH nicht ratifiziert hat. Zudem blockieren Russland und China durch ihre Vetos jeden Versuch beim VN-Sicherheitsrat, ein internationales Verfahren zu Syrien einzuleiten. Jedoch schöpfen die in Europa laufenden Ermittlungen in den in Syrien verübten Verbrechen neue Hoffnungen, dass Gerichtsverfahren immer noch möglich sind, um Gerechtigkeit für Opfer zu verwirklichen, die keine andere Option haben. Internationale Gerichtsbarkeit hat den Syrerinnen und Syrern die Möglichkeit eingeräumt, dass Verbrecher zur Rechenschaft gezogen werden.

Anfang dieses Jahres wurde in Koblenz der erste Prozess gegen ehemalige Beamte syrischer Geheimdienste wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit –darunter Folter, sexueller Missbrauch und Vergewaltigung– eingeleitet. Dieser Prozess stellte vor allem für die Opfer und deren Verwandten einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Gerechtigkeit dar. Darüber hinaus wurde kürzlich der syrische Arzt Alaa Mousa vom Bundeskriminalamt in Hessen festgenommen. Dieser soll Gefangene in Militärkrankenhäusern in Syrien gefoltert haben. Diese Festnahme ist ein weiterer Beweis dafür, dass dem Kurs der Gerechtigkeit weiter gefolgt wird. Alle, die an Verbrechen gegen das syrische Volk beteiligt sind, werden davon betroffen.

Der Koblenzer Prozess wurde von verschiedenen internationalen Menschrechtsorganisationen begrüßt und kam unter vielen Syrerinnen und Syrern positiv an. Diese betrachten den Prozess als einen historischen Schritt, um Gerechtigkeit für Hunderttausende zu gewähren, die in den Gefängnissen und Haftanstalten des syrischen Regimes und seiner Milizen illegal festgenommen, gefoltert und getötet wurden. Manche Syrerinnen und Syrer meinen jedoch, dieses Verfahren diene nur dem Assad-Regime. Denn es würden Dissidenten des Regimes angeklagt. Als würde ein Seitenwechsel einen Freispruch von Verbrechen bedeuten! Nach dieser absurden Logik würde man rechtfertigen, dass jede Seite ihre Verbrecher schützen kann, sei es Assad, dessen Milizen oder andere Akteure. In diesem Kontext ist es wichtig zu erwähnen, dass die Verbrechen, die den Angeschuldigten im Rahmen dieses Prozesses zur Last gelegt werden, weder verjähren noch amnestiert werden können. Nur die zuständige Justiz kann entscheiden, ob ein Angeschuldigter schuldig ist oder nicht, und ausschließlich die Opfer haben die Wahl, die Verbrecher zu begnadigen oder nicht.

Es ist hervorzuheben, dass unser Engagement als ehrenamtliche Rechtsanwälte darauf beruht, den Opfern dabei zu helfen, ihre Anliegen vor Gericht zu bringen. Ziel ist, dass sie die Verbrecher gerichtlich verfolgen können, ganz abgesehen davon, welcher Seite diese angehören. Niemand darf die Opfer dazu auffordern, ihre Rechte aufzugeben und beispielsweise von einer Anklage gegen Anwar Raslan [einen früheren Ermittlungschef der syrischen Staatssicherheit] oder andere abzusehen. Es ist verwunderlich, wie manche eine solche Aufforderung äußern, ohne das geringste Mitgefühl mit den Opfern zu zeigen. Wie könnte man von jemandem verlangen, der gefoltert wurde oder dessen Bruder oder Sohn unter Folter getötet wurde, sein Recht auf Gerechtigkeit aufzugeben? Wie könnte man von jemandem verlangen, dessen Tochter, Schwester oder Frau vergewaltigt wurde, dem Verbrecher zu vergeben?

In letzter Zeit tauchten Skeptiker auf, welche die Aussagen mancher Opfer infrage stellen. Sie leugnen sogar absolut, dass die syrischen Sicherheitsdienste im Jahr 2011 Gefangene sexuell missbraucht haben. Das hört sich so an, als wäre der Zeuge, dessen Aussage in Zweifel gezogen wird, zur Abteilung des Geheimdienstes eingeladen worden, um einen Spaziergang zu machen und Vorträge zu Menschenrechten zu besuchen!

Viele Syrerinnen und Syrer fragen sich, was das Ziel einer solchen „Leugnungskampagne“ sein könnte. Dient solche Leugnung überhaupt der Gerechtigkeit? Oder will man die Menschen durch Einzelheiten von der wesentlichen Frage ablenken?

Wahr ist, dass eine solche Verwirrung beim Koblenzer Prozess Chaos stiften und bei den Betroffenen einen negativen Eindruck hinterlassen könnte. Jedoch das, was im Gerichtssaal geschieht, wird davon nicht betroffen. Es sind ausreichende bestätigte Beweise und die Verbrechen sind im Ausmaß so groß, dass sie nicht gedeckt werden können. Bald werden die Skeptiker schockiert, dass ihre Zweifel von den Zeugenaussagen geplatzt werden. Denn diese Zeugen warten an der Reihe, um ihre Aussagen abzugeben, und diese werden bestätigen, dass die syrischen Geheimdienste seit 2011 Gefangene sexuell missbrauchen.

Der Koblenzer Prozess ist nur der Anfang. Es ist jedoch ein wesentlicher und wichtiger Schritt auf dem Weg zur Gerechtigkeit für alle Syrerinnen und Syrer. Das ist das erste gerichtliche Verfahren gegen ehemalige Beamte der Geheimdienste des Assad-Regimes wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Gelegenheit sollten wir in unserem langen rechtlichen Kampf gut ausnutzen, um Gerechtigkeit zu verwirklichen. Wir sollten damit eine starke Verwarnung an alle richten, die Verbrechen gegen das syrische Volk verüben: Alle sind vor dem Gesetz gleich. Verbrecher sollen sich der Rechenschaft nicht mehr entziehen können. Der Koblenzer Prozess wird ein Meilenstein dabei sein, die Umgehung von Bestrafung bei schwerwiegenden Verstößen gegen Menschenrechte zu bekämpfen. Und zwar nicht nur in Syrien, sondern in der ganzen Welt. Es ist eine Gelegenheit, um durch Zeugenaussagen und andere Beweise das brutale Vorgehen der syrischen Sicherheits- und Geheimdienste gegen die Syrerinnen und Syrer aufzudecken.

Es ist uns, Syrerinnen und Syrern, ein Anliegen, dass dieser rechtliche Kurs in Europa zum Erfolg kommt. Der Koblenzer Prozess ist mehr als ein Verfahren gegen zwei ehemalige Beamte der syrischen Geheimdienste. Es ist ein Prozess gegen das gesamte Unterdrückungsregime Assads, das ich mir im Gerichtssaal anstelle der Angeschuldigten vorgestellt habe. Wir wollen allen Akteuren, die für unser Leid verantwortlich sind, im Weg stehen und verhindern, dass sie beim Wiederaufbau Syriens eine Rolle spielen. Zudem wollen wir unsere Würde, deren uns über Jahre hinweg beraubt wurde, zurückgewinnen.

Deutsche Übersetzung: Majed Alkatreeb